Trauma (Psychologie)
Als psychisches, seelisches oder mentales Trauma oder Psychotrauma (Plural Traumata, Traumen; griechisch Wunde, τραύμα) wird in der Psychologie eine seelische Verletzung bezeichnet.[1] Das Wort Trauma kommt aus dem Griechischen und bedeutet allgemein Verletzung, ohne dabei eine Festlegung zu treffen, wodurch diese hervorgerufen wurde. In der Medizin wird mit dem Begriff Trauma eine körperliche Verwundung bezeichnet, die durch einen Unfall oder eine Gewalteinwirkung hervorgerufen wurde. Diese Verwendung ist seit dem 19. Jahrhundert belegt.[2] Analog hierzu bezeichnet man in der Psychologie eine starke psychische Erschütterung, die durch ein traumatisierendes Erlebnis hervorgerufen wurde, als Psychotrauma. Der Begriff wird nicht einheitlich verwendet und kann sowohl das auslösende Ereignis, aber auch die Symptome oder das hervorgerufene innere Leiden bezeichnen. Psychische Traumatisierungen spielen eine zentrale Rolle für die Entwicklung psychischer Störungen.[3]
Inhaltsverzeichnis
1 Begriffsverwendung
2 Definitionen
3 Geschichte der Schilderungen
4 Traumatisierende Ereignisse
5 Historisches Trauma
6 Kollektives Trauma
7 Ausmaß der Traumatisierung
8 Symptome und Verhaltensweisen
8.1 Intrusive Symptomatik
8.2 Konstriktive Symptomatik
8.3 Übererregung
9 Traumafolgestörungen
9.1 Entstehung von Traumafolgestörungen
9.2 Primäre psychische Störungen
9.3 Sekundäre psychische Störungen
9.4 Weitere Folgen von Traumatisierungen
10 Traumatherapie
10.1 Psychotherapeutische Behandlung
10.1.1 Psychoanalytische Verfahren
10.1.2 Imaginative psychodynamische Verfahren
10.1.3 Traumafokussierte Verhaltenstherapie
10.1.4 Narrative Verfahren
10.1.5 EMDR
10.1.6 Gestalttherapie
10.1.7 Debriefing
10.1.8 Körpertherapeutische Verfahren
10.1.9 Kreative Therapieverfahren
10.1.10 Weitere Verfahren
10.2 Medikamentöse Behandlung
10.2.1 Tranquilizer
10.2.2 Antidepressiva
10.2.3 Trizyklische Antidepressiva
10.2.4 SSRI Antidepressiva (Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer)
10.2.5 Andere Antidepressiva
10.2.6 Neuroleptika
11 Auswirkungen auf das Leben
12 Spezielle Traumatisierungen
12.1 Kriegstraumata und Kriegstraumakinder
12.2 Traumatisierung von Kindern in Krankenhäusern
12.3 Kindesmisshandlung
12.4 Trauma und Bindung
13 Sonstige Begriffe
14 Siehe auch
15 Literatur
16 Weblinks
17 Einzelnachweise
Begriffsverwendung |
Traumatisierende Ereignisse können beispielsweise Naturkatastrophen, Kriege, Geiselnahmen, Vergewaltigungen oder Unfälle mit drohenden ernsthaften Verletzungen sein.[4] Sowie außerdem zum Beispiel Kriegserlebnisse, Entführungen, Terroranschläge, Folter, Lagerhaft, politische Haft oder gewalttätige Angriffe auf die eigene Person.[5] Diese Ereignisse können in einem Menschen extremen Stress auslösen und Gefühle der Hilflosigkeit oder des Entsetzens erzeugen. Die hierdurch im Menschen hervorgerufene Angst- und Stressspannung kann bei der Mehrzahl der Betroffenen wieder von alleine abklingen, wobei sich auch bei diesen Menschen das Verhalten ändert. Die Überwindung des Traumas hat sie wachsen lassen. Richard G. Tedeschi und Lawrence G. Calhoun haben dafür den Begriff posttraumatisches Wachstum (englisch posttraumatic growth) definiert.[6] In besonderen Fällen jedoch, wenn diese erhöhte Stressspannung über längere Zeit bestehen bleibt und es keine Möglichkeit gibt, die Erlebnisse adäquat zu verarbeiten, kann es zur Ausbildung von teils intensiven psychischen Symptomen kommen. Bei etwa einem Drittel der Betroffenen kommt somit zu der schmerzlichen Erinnerung noch ein psychisches Krankheitsbild hinzu, welches zusätzliches Leid verursacht. Das bekannteste dieser Krankheitsbilder ist die sogenannte posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). Aber auch andere Krankheitsbilder können nach Traumatisierungen auftreten.
In der Alltagssprache kam es zu einer inflationären Verwendung des Begriffes, und häufig wird der Begriff des Traumas in Zusammenhang mit allen besonders negativen oder leidvollen Erfahrungen verwendet. In der medizinischen oder psychologischen Fachliteratur ist dieser Begriff jedoch wesentlich enger gefasst und bezieht sich ausschließlich auf Ereignisse, die psychische Folgestörungen auslösen könnten.
Psychische Traumata stellen den wissenschaftlichen Gegenstand der Psychotraumatologie dar.
Konzepte, die sich mit der Überwindung von Traumata beschäftigen, sind unter anderem Resilienz, Salutogenese und Hardiness.
Definitionen |
- Fischer und Riedesser definieren Trauma in ihrem Lehrbuch der Psychotraumatologie (S. 79)[7] als:
„[…] ein vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt.“
- Das medizinische Klassifikationssystem ICD-10[8] und die zugehörigen diagnostischen Anleitungen beschreiben das Traumakriterium als:
„[…] ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde (ICD-10) (z. B. Naturkatastrophe oder menschlich verursachtes schweres Unheil – man-made disaster – Kampfeinsatz, schwerer Unfall, Beobachtung des gewaltsamen Todes Anderer oder Opfersein von Folter, Terrorismus, Vergewaltigung, Misshandlungen oder anderen Verbrechen).“
Geschichte der Schilderungen |
Möglicherweise die erste Beschreibung traumatischer Ereignisse findet sich im Gilgamesch-Epos, das vor circa 5000 Jahren verfasst wurde: Mir graute vor meines Freundes Aussehn, Ich erschrak vor dem Tod, dass ich lief in die Steppe! … Ach, wie soll ich stumm bleiben? Ach, wie schweigen? Mein Freund, den ich liebte, ist zu Erde geworden! So beschreibt der babylonische König laut des Epos den Tod seines Freundes Enkidu. Weitere Beschreibungen finden sich in der Ilias. Ähnliche Schilderungen existieren aus der Schlacht bei Marathon und in den Tagebüchern des Samuel Pepys, der das große Feuer von London miterlebte.[9] Dieser notierte in seinem Tagebuch: Je dunkler es wurde, desto größer erschien das Feuer, in allen Winkeln, auf Hügeln, zwischen Häusern und Kirchen, so weit man sehen konnte, bis zur City leuchtete die schreckliche blutrote Flamme, nicht wie die Flamme eines gewöhnlichen Feuers. Wir blieben, bis man das Feuer als einen einzigen blutroten Bogen von dieser bis zur anderen Seite der Brücke sah, ein Bogen, der etwa eine Meile lang war. Der Anblick machte mich weinen. Später notierte Pepys in seinem Tagebuch, dass er unter Schlafstörungen und nächtlicher Angst vor dem Feuer leide. Posthum wurde mehrere Jahrhunderte nach dem Tode von Pepys eine PTBS diagnostiziert.[10]
Traumatisierende Ereignisse |
Ereignisse, die häufig zu Traumatisierungen führen, bzw. neu als „potenziell traumatische Ereignisse“ bezeichnet, sind beispielsweise:
Naturkatastrophen, Krieg, Kampfeinsatz, Folter, Vertreibung, terroristischer Anschlag, Vergewaltigung, Unfall mit drohenden ernsthaften Verletzungen, Traumata durch medizinische Eingriffe, sexueller Angriff oder sexualisierte Gewalt, Beobachtung des gewaltsamen Todes anderer, Tod der Eltern in der Kindheit, Verlust der geliebten Person und/oder der eigenen Kinder, lebensbedrohliche Krankheiten in der Kindheit, ausgeprägte emotionale oder körperliche Vernachlässigung in der Kindheit... (siehe auch Kindheitstrauma).
Aber auch weniger dramatisch erscheinende Ereignisse können im ungünstigen Fall dazu führen, dass ein Mensch in den Zustand intensiver Hilflosigkeit gerät und die eigenen Bewältigungsmöglichkeiten hierdurch überschritten werden. Als Beispiele können hier schwere persönliche Angriffe und Schmähungen, lang andauernde Manipulation, Mobbing, emotionaler Missbrauch, Vernachlässigung, körperliche Züchtigung, Scheidung oder Trennung, Konfrontation mit Traumafolgen als Helfer oder traumatisierendes Geburtserleben genannt werden.
Ob eine Situation traumatisch wird, hängt nicht nur von den äußeren Umständen, sondern auch sehr stark vom inneren Erleben dieses Ereignisses ab. Ein Verschütteter, der in dem festen Glauben ist, dass Hilfsmannschaften rechtzeitig zu ihm durchdringen werden, wird noch nicht unter der akuten Todesangst und dem gleichen Stresshormonpegel stehen wie ein Verschütteter, der sich alleine und vollkommen hilflos fühlt, da er von den eingeleiteten Rettungsmaßnahmen noch gar nichts mitbekommen hat. Ein Arzt, der berufsbedingt gewohnt ist, schwere Verletzungen zu sehen, gerät auch bei Anblick eines schweren Verkehrsunfalls nicht so leicht in den Zustand von Hilflosigkeit, sondern hat zuvor in einem persönlichen und guten Kontakt zusammen mit anderen Medizinstudenten gelernt, richtig zu handeln, Distanz zu dem Leid von Menschen zu wahren, Worte hierfür zu finden und kann folglich dieses Ereignis schneller einordnen. Er wird nicht von den grauenhaften Bildern der Unfallstelle sprachlos überwältigt und er wird sich nicht alleine und schutzlos diesen Bildern ausgeliefert fühlen. Ob ein Mensch aufgrund einer traumatischen Situation mit einer psychischen Störung reagiert und welches Krankheitsbild danach im Vordergrund steht, hängt meistens sehr von den persönlichen Bewältigungsmöglichkeiten und vielen weiteren Faktoren ab. Es gibt allerdings auch Ereignisse, die fast immer zu einem psychischen Krankheitsbild führen. Nach Folter erholt sich fast niemand von alleine, nach einer Vergewaltigung lediglich ein Viertel der Betroffenen ohne therapeutische Hilfe.[11]
Historisches Trauma |
Unter einem historischen Trauma versteht man ein solches psychologisches Trauma, das mehrere Generationen überspannt und noch die Kinder und Kindeskinder betrifft, obwohl diese selbst der traumatischen Erfahrung nicht ausgesetzt worden waren. Als ein solches zählt etwa die Sklaverei. Weitere Gründe für historische Traumata sind etwa Kriege, Völkermord, Enteignung von Bevölkerungsgruppen, Unzugänglichkeit der höheren Bildung für bestimmte Bevölkerungsgruppen oder andere Formen der Diskriminierung. Historische Traumata können dazu führen, dass dereinst zweckmäßige Verhaltensweisen fortgeführt werden, obwohl sie in den neuen Zeiten nicht mehr zweckmäßig sind. So kann es etwa vorkommen, dass eine Bevölkerungsgruppe, der Bildung vorenthalten wurde, auch in der Gegenwart noch ein tiefes Misstrauen gegenüber dem Bildungssystem besitzt. Joy DeGruy postulierte ein Post Traumatic Slave Syndrome (PTSS), das durch das historische Trauma der Sklaverei bedingt sei.[12]
Kollektives Trauma |
Ein kollektives Trauma ist ein solches Trauma, das alle, die meisten oder zumindest viele Personen innerhalb einer Gesellschaft betrifft. Beispiele sind etwa die mittelalterliche Pest oder aber Massenvergewaltigungen, wie etwa während des Genozids in Ruanda. Die Anschläge des 11. Septembers werden von einigen als kollektives Trauma für die USA betrachtet.[13]
Ausmaß der Traumatisierung |
Das Risiko einer Traumafolgestörung und der Schweregrad der Erkrankung hängen von verschiedenen Faktoren ab.
Risiko- und Schutzfaktoren
Als Risikofaktoren stellten sich frühere Traumatisierungen (beispielsweise vorab erlebter Missbrauch in der Kindheit), ein junges Alter zum Zeitpunkt der Traumatisierung, Grad der Bildung oder Geschlecht heraus. Allerdings tragen diese Faktoren in weitaus geringerem Maße zu einer späteren Traumatisierung bei als die Ereignisfaktoren und die beeinflussenden Faktoren nach der eigentlichen Traumatisierung. Die Wirkung von Schutzfaktoren wird auch als Resilienz bezeichnet. Resilienz bzw. Schutzfaktoren wirken nach einer Traumatisierung mildernd auf die Ausbildung von Symptomen und Traumafolgestörungen.
Ereignisfaktoren
Je schwerer die belastende Situation war (z. B. Schadensausmaß oder Anzahl der Toten), desto mehr vergrößert sich die Wahrscheinlichkeit eine Traumafolgestörung zu entwickeln. Außerdem ist sie bei länger andauernden Traumata (zum Beispiel wiederholte sexuelle Angriffe innerhalb der Familie) größer als bei einmaligen Traumata (zum Beispiel Eisenbahnunfall). Daher wird Traumatisierung anhand von Ereignisfaktoren klassifiziert.[14][15] Dabei wird anhand der Dauer der Traumatisierung zwischen Typ-I- und Typ-II-Traumata unterschieden: Typ-I-Traumata sind durch ein plötzlich eintretendes Ereignis gekennzeichnet, dass zeitlich klar begrenzt ist und bei dem entweder akute Lebensgefahr für die eigene oder andere Personen besteht oder diese subjektiv angenommen wird. Typ-II-Traumata dagegen bestehen entweder aus eine Reihe von Einzelereignissen oder aus einem langanhaltenden traumatischen Geschehen (so wie z. B. bei Traumatisierungen in der Kindheit durch die Familie).
Weiterhin wird zwischen akzidentellen und interpersonellen Traumata unterschieden. Akzidentelle Traumata sind zufällig aufgetretene traumatische Ereignisse die außerhalb des Einflusses von Menschen stehen, wie beispielsweise Naturkatastrophen oder unbeabsichtigte Autounfälle. Dagegen sind interpersonelle Traumata (englisch: man made disaster) solche, die vorsätzlich von einem oder mehreren anderen Menschen verursacht wurden.[14][15][16]
Interpersonelle Traumata und Typ-II-Traumata haben für gewöhnlich schwerwiegendere Folgen als akzidentelle oder Typ-I-Traumata. Zusätzlich sind Typ-II-Traumata in deutlich höherem Maße mit dem Auftreten einer Komplexen Posttraumatischen Belastungsstörung assoziiert.[15]
Ereignisfaktoren | Typ-I-Trauma (einmalig / kurzfristig) | Typ-II-Trauma (wiederholt / langfristig) |
---|---|---|
interpersonelles Trauma (man made) | sexueller Übergriff körperliche Gewalt kriminelle Gewalt (z. B. Raubüberfall) | langanhaltende oder wiederholte sexuelle und/oder körperliche Gewalt Kindesmisshandlung Kriegserleben, Folter, politische Haft |
akzidentelles Trauma | Verkehrsunfälle Naturkatastrophen | lang andauernde Katastrophen |
Zusätzlich kann noch zwischen den folgenden Arten von Traumatisierung unterschieden werden:[16]
Medizinisches Trauma: bei schwerwiegenden, lebensbedrohlichen oder stark lebensverkürzenden Erkrankungen oder solchen, die eine chronische Invalidität zur Folge haben, sowie nach schweren, sehr belastenden medizinischen Eingriffen oder Behandlungsverläufen, oder bei schwerer bleibender Schädigung von Körper und Gesundheit nach ärztlichen Behandlungsfehlern.[15]
Berufsbedintes Trauma: berufsbedingte Traumatisierung, z. B. bei Rettungskräften, Polizisten usw.[17]
Sekundäres Trauma: (zuweilen und nicht unumstritten auch synonym verwendet mit dem Begrif: ‚compassion fatigue‘): berufsbedingte Traumatisierung, z. B. bei Psychotherapeuten, die empathisch psychotherapeutisch mit Klienten arbeiten und dabei häufig mit emotionalisierenden Schilderungen hochbelastender Traumaereignisse konfrontiert sind.[17]
Zuschauer-Trauma (engl.: bystander trauma): das traumatische Ereignis betrifft einen zwar nicht selbst, man erlebt es jedoch als Zeuge mit.
individuelles versus kollektives Trauma: Traumata die eine Person allein erlebt hat versus Traumata die mehrere Menschen gleichzeitig erlebt haben (Bsp.: Flugtagunglück von Ramstein, Unglück bei der Loveparade 2010).
Eine genaue Klassifikation ist jedoch nicht in jedem Fall sinnvoll und auch nicht immer möglich, allerdings in letzter Instanz auch nicht zwingend notwendig.[16]
Persönliche Faktoren
Für die Folgewirkungen des traumatisierenden Ereignisses ist nicht nur die äußere (objektive) Intensität des erlebten Ereignisses, sondern insbesondere die innere (subjektive) Wahrnehmung wichtig. Bezüglich des Alters ergibt sich ein U-förmiger Verlauf. Sehr junge Menschen und ältere Menschen erkranken mit einer höheren Wahrscheinlichkeit. Im mittleren Alter ist die Wahrscheinlichkeit am niedrigsten.
Initiale Reaktion
Die Reaktion des Individuums noch während des traumatischen Ereignisses oder unmittelbar danach lässt nur in bedingtem Maße eine Vorhersage der Schwere der Traumafolgestörungen zu. Konnte sich der Mensch beispielsweise während einer Vergewaltigung oder während der Folter noch ein geringes Gefühl der Autonomie bewahren, so waren die Symptome weniger ausgeprägt als bei einer Kontrollgruppe, deren Mitglieder sich selbst aufgegeben haben. Kommt es zur Dissoziation (Derealisations- und Depersonalisationsphänomene) noch während des traumatisierenden Ereignisses, nimmt das Trauma-Ausmaß zu.[18]
Gesundheitsfördernde Faktoren (Ressourcen)
Die Unterstützung durch das soziale Umfeld und die Anerkennung als Opfer können einen positiven Einfluss auf den Verlauf einer posttraumatischen Belastungsstörung ausüben. Ebenso ist es hilfreich, wenn die Traumatisierten eine Möglichkeit der zwischenmenschlichen Einbettung haben und über das Erlebte kommunizieren können (disclosure).[19] Als Kohärenzsinn wird ein von Aaron Antonovsky (1987) entwickeltes psychisches Konstrukt bezeichnet. Darunter versteht man die Fähigkeit das traumatische Ereignis geistig einordnen, verstehen und ihm einen Sinn geben zu können. Berichte von Überlebenden der Konzentrationslager weisen darauf hin, dass eine derartige aktive Geisteshaltung für die Bewältigung hilfreich war.
Symptome und Verhaltensweisen |
Die Symptome von Traumatisierungen lassen sich in drei Gruppen einteilen: Intrusion, Konstriktion und vegetative Übererregung.[20]
Die Symptome stellen einen Selbstheilungsversuch der Psyche dar, bei dem durch ein Pendeln zwischen Konfrontation und Konstriktion versucht wird, das Trauma aufzulösen.[21]
Intrusive Symptomatik |
- wiederholte, unausweichliche Erinnerungen oder ungewolltes Denken an oder zwanghaftes Beschäftigen mit dem Ereignis (intrusive Gedanken)
- Tagträume oder Alpträume im Zusammenhang mit dem Ereignis
Flashbacks: durch bestimmte Schlüsselreize (Trigger) wird die Erinnerung an das zurückliegende Trauma erneut wachgerufen, die Person erlebt das traumatische Ereignis erneut, als würde es wieder geschehen
Bei äußeren oder inneren Intrusionen (durch Schlüsselreize ausgelöst) können teilweise unverhältnismäßig heftige Reaktionen, wie beispielsweise Panikattacken entstehen.
Konstriktive Symptomatik |
Dissoziation: eine Abspaltung von Wahrnehmung und Affekt, ein Mechanismus durch den unbewusst versucht wird, den Intrusionen und den damit verbundenen Reaktionen zu entgehen. Als Sonderformen von Dissoziation können Depersonalisation und Derealisation entstehen.- Unfähigkeit, sich an die traumatischen Ereignisse oder bestimmte Details zu erinnern (als psychologischer Schutzmechanismus vor nicht-integrierbaren, schmerzhaften Erinnerungen durch (dissoziative) (Teil-)Amnesien (Verdrängung))
Emotionale Taubheit (Fähigkeit sich zu freuen, zu lieben oder zur Trauer ist eingeschränkt, und bis hin zu völliger emotionaler Erstarrung (Numbing) oder Depression)
- Vermeidungsverhalten: Versuche alles zu vermeiden, was an das Trauma erinnern könnte (Avoidance):
- Gedanken und Gefühlen
- Ort, an dem das Trauma geschehen ist
- Personen, die mit dem Ereignis zusammenhängen
- Personen oder Ort, die dem traumatischen Ereignis ähnlich sind
- bei Alpträumen Versuche das Einschlafen zu vermeiden (absichtliches Wachhalten)
Gedankliche Vorwegnahme des Schlimmsten, um einerseits unbeabsichtigte Erinnerungen an das Trauma zu vermeiden, als auch um eine erneute Traumatisierung zu verhindern. Von der Umwelt kann dies auch als eine Art von Dauer-Pessimismus erlebt werden.- Gefühle der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins, Verlust von Selbstsicherheit und eines zuvor vorhandenen Gefühls von grundlegender Sicherheit und Geborgenheit im eigenen Leben und Grundvertrauen in das Leben und die Mitmenschen
- Verlust früherer Grundüberzeugungen über die Welt und sich selbst und über den Sinn des Lebens; Entstehung einer emotionalen Distanz gegenüber anderen Menschen und der Welt, Entfremdungsgefühle
- Unfähigkeit, über die Ereignisse zu sprechen oder die Ereignisse und Gefühle richtig in Worte zu fassen
Übererregung |
- eine vegetative Übererregung (auch Hyperarousal) in Form einer chronischen Dauerstressreaktion: Eine physiologische Stressreaktion findet in einer akuten Gefahrensituation durch die Aktivierung des sympathischen Nervensystems im Rahmen der Kampf-oder-Flucht-Reaktion statt, die sich normalerweise meist innerhalb von Minuten bis Stunden nach dem Belastungsereignis wieder abbaut. Bei nicht integrierten traumatischen Erinnerungen läuft diese Reaktion unabhängig von objektiven Gefahren permanent weiter ab und geht typischerweise mit physiologischen Symptomen wie Herzrasen, Zittern, Übelkeit, Drehschwindel, Agitiertheit, erhöhte Schreckhaftigkeit, chronischen Verspannungen einher[20]
- häufig chronische Schlafstörungen
Hypervigilanz, eine anhaltend erhöhte, angespannte Wachsamkeit oder Wachheit
- auch wenn Traumatisierte innerlich ständig unruhig und schreckhaft sind, können sie äußerlich ein stark kontrollierendes Verhalten zeigen (da das Trauma als ein extremer Kontrollverlust erlebt wurde)
- des Weiteren können hervorgerufen durch den andauernden Stress Konzentrationsschwierigkeiten, Gedächtnisprobleme und eine erhöhte Reizbarkeit entstehen
Je nach Art und Dauer des Traumas kann es vorkommen, dass sich diese Symptome einige Zeit nach dem traumatisierenden Ereignis von selbst zurückbilden (Spontan-Remission) und das traumatische Erlebnis normal in den Lebenslauf integriert werden kann. In den meisten Fällen, vor allem bei schweren Traumata, Traumata in der Kindheit oder bei Menschen mit wenig Resilienz (Psychologie), kann eine Integration des Traumas durch Selbstheilungskräfte allein auch nach langer Zeit nicht wiederhergestellt werden und es kommt zur Herausbildung von traumabedingten Folgestörungen (s. u.). Diese können sich auch erst Monate oder Jahre nach dem traumatisierenden Ereignis bemerkbar machen und unter Umständen mit veränderten Hirnaktivitäten und neuroanatomischen Veränderungen einhergehen.[22]
Traumafolgestörungen |
Traumafolgestörungen reichen von Leid- und Angstgefühlen bis hin zu schwerwiegenden psychischen Störungen, psychosomatischen Beschwerden und Schmerzstörungen. Die wissenschaftliche Untersuchung der Entstehung, Wirkungen und Therapiemöglichkeiten von Traumata ist eine der Aufgaben der Psychotraumatologie.
Entstehung von Traumafolgestörungen |
Aufgrund der Unvorhersehbarkeit der traumatisierenden Ereignisse ist es kaum möglich, die emotionalen, kognitiven und neurobiologischen Zustände der betroffenen Menschen vor und nach der Traumatisierung zu untersuchen. Folglich ist der Mechanismus, der zur Ausbildung der Traumafolgestörungen führt, weitgehend unbekannt. Außerdem zeichnet sich ab, dass Traumafolgestörungen das Ergebnis von sowohl physiologischen, psychologischen als auch sozialen Prozessen sind. Trotz dieser Schwierigkeit konnte in mehreren Studien bei Traumatisierten eine Reihe von psychischen Auffälligkeiten und neuronalen Veränderungen festgestellt werden, und es wurde versucht, auf Grundlage dieser Ergebnisse Modelle zu entwickeln, die die Ausbildung von Traumafolgestörungen erklären können.
Gedächtnismodell
Bei der Traumatisierung kommt es durch die massive Ausschüttung von Neurohormonen zu einer Fehlfunktion der Hippocampusformation, deren Aufgabe es ist, neu eintreffende Sinneseindrücke aus den unterschiedlichen Sinnesorganen zu sammeln und diese in einen autobiografischen Gesamtzusammenhang einzubetten. Aufgrund der traumatisch bedingt einsetzenden Fehlfunktion wird die räumliche und zeitliche Erfassung massiv gestört. Dadurch werden die Sinneseindrücke aus den unterschiedlichen Sinnesorganen zusammenhangslos als akustische, visuelle, olfaktorische und kinästhetische Informationsfragmente vom Patienten wahrgenommen, welche nicht „hippokampal“ („explizites Gedächtnis“ (LeDoux)) in das Bewusstsein eingespeist und gespeichert werden können, sondern „amygdaloid“ („implizites Gedächtnis“) fragmentiert bleiben. Bei einem Flashback werden diese fragmentierten Gedächtnisinhalte dann abgerufen.
Hormonelles Stress-System:
Traumatisierte Patienten zeigen im Vergleich zu Gesunden eine erhöhte Aktivität des noradrenergen Stress-Systems. Dies führt zu den Begleitsymptomen wie Schlaflosigkeit, Konzentrationsschwäche, Übererregung oder Schreckhaftigkeit. Einige Studien deuten darauf hin, dass die Cortisolausschüttung erniedrigt und die Sensitivität der Glucocorticoidrezeptoren erhöht sein könnten.
Primäre psychische Störungen |
Zu den häufigen psychischen Störungen nach Traumatisierungen gehören:
Anpassungsstörung
Psychische Belastungsreaktionen, welche durch Ereignisse ausgelöst werden, die nicht der medizinischen Definition des Traumas entsprechen, werden als Anpassungsstörungen diagnostiziert. Bei den Ereignissen geht es eher um den Tod eines Angehörigen oder eine belastende Scheidung. Die Anpassungsstörung liegt im Grenzbereich zwischen einer nachvollziehbaren Verstörung aufgrund eines schwierigen Lebensereignisses und einer im Patienten vorhandenen Neigung zu Depression und Ängsten.
Akute Belastungsreaktion
Bei einer Akuten Belastungsreaktion folgen die Symptome unmittelbar auf das belastende Ereignis. Eine akute Belastungsreaktion dauert typischerweise einige Stunden oder Tage (manchmal auch Wochen) an.
Posttraumatische Belastungsstörung
Von einer Posttraumatischen Belastungsstörung spricht man, wenn die aufgetretenen Symptome nach mehr als vier Wochen noch fortbestehen und danach über einen längeren Zeitraum anhalten und sich somit ein chronischer Verlauf abzeichnet. Halten die Symptome einen weiteren Zeitraum von acht Monaten an, kann nicht mehr erwartet werden, dass sich die posttraumatische Belastungsstörung spontan vollständig zurückbildet.[23]
Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung
Seit ca. 2000 hat sich in Zusammenhang mit Mehrfachtraumatisierungen und ihre umfassenderen psychischen und zwischenmenschlichen Folgen zunehmend der Begriff der Komplexen Posttraumatischen Belastungsstörung (KPTBS) durchgesetzt, zudem diese Traumatisierungen häufig eine andere therapeutische Herangehensweise erfordern. Als Andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung wurde ein ähnliches Phänomen beschrieben, das sich ebenfalls durch Mehrfachtraumatisierungen und hierdurch eventuell verursachte andauernde Veränderungen in den individuellen und interpersonellen Verhaltensmustern äußert.
Sekundäre psychische Störungen |
Eine Traumatisierung erhöht das Risiko für die Entwicklung fast aller anderen psychischen Erkrankungen. Hierzu gehören:
- Dysthymie
- Somatoforme Störungen
- Agoraphobie
- Generalisierte Angststörung
- Medikamenten- und Drogenmissbrauch
- Nikotinabusus
- Suizidalität
Spezifische Phobien, Zwangsstörungen und Essstörungen werden oft nicht als sekundäre psychische Störung gesehen, sondern eine Traumatisierung wird als indirekter Risikofaktor zur Ausbildung einer dieser psychischen Störungen verstanden. Auch bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung und der Dissoziativen Identitätsstörung werden traumatische Ereignisse als maßgeblicher Faktor angesehen.
Weitere Folgen von Traumatisierungen |
Sexualisierte Gewalt kann zu diversen Störungen der Sexualität und des Lustempfindens (sowohl in Form von Hemmung als auch Übersteigerung) führen; Folter wiederum geht später häufig mit idiopathischen Schmerzen einher.
Traumatherapie |
Die Traumatherapie wendet sich an Patienten, die einem traumatisierenden Ereignis ausgesetzt waren. Diese benötigen oft – über den Beistand von Angehörigen oder Freunden hinaus – professionelle Hilfe zur emotionalen Stabilisierung und zur Bearbeitung und Integration der abgespaltenen, traumatischen Gedächtnisinhalte, um möglichst weitgehend langfristige oder chronische Beschwerden und körperliche und psychische Folgeerkrankungen zu vermeiden. Deshalb sollte insbesondere nach einer schwereren Traumatisierung möglichst frühzeitig, bereits in den ersten Wochen nach dem Ereignis, ein entsprechend spezialisierter Psychotherapeut oder eine -therapeutin aufgesucht werden,[24] der eine umfangreiche, spezielle traumatherapeutische Ausbildung und entsprechende Erfahrung in den jeweiligen Therapieformen der Traumatherapie besitzt.[25][15]
Psychotherapeutische Behandlung |
Jede große psychotherapeutische Schule hat eigene Ansätze zur Behandlung traumatischer Störungen entwickelt, so z. B. Verfahren der kognitiven Verhaltenstherapie bzw. Verhaltenstherapie und psychodynamische Verfahren. Aufgrund der durch neurophysiologische Erkenntnisse gestützten Vermutung, dass traumatisierte Menschen eine von anderen psychologischen Störungsbildern abweichende Dynamik und Physiologie aufweisen, haben sich auch Methoden entwickelt, die spezifisch auf die Trauma-Behandlung zugeschnitten sind. Die verschiedenen Erklärungsmodelle der unterschiedlichen traumatherapeutischen Behandlungsansätze, deren Wirksamkeit empirisch belegt ist, konnten jedoch wissenschaftlich noch nicht nachgewiesen werden.[25]
Das Ziel der psychotherapeutischen Verfahren ist, zu einer geordneten Verarbeitung des Traumas bzw. der Traumata zu kommen und dadurch die traumatypischen Symptome entweder zu begrenzen bzw. zu kontrollieren oder aufzulösen. Die verschiedenen Methoden können als einander ergänzende multidimensionale Ansätze für ein multidimensionales Geschehen gesehen werden. Hilfe zur Integration der verschiedenen Ansätze verspricht die neuerdings gewonnene Fülle an neurophysiologischen Erkenntnissen über Traumatisierung.[15] Nach schwerer Traumatisierung ist es wichtig, möglichst frühzeitig eine geeignete traumatherapeutische Behandlung zu beginnen, da so die das Risiko von Spätfolgen und chronischer Residualbeschwerden verringert werden kann. Die Behandlungsentscheidung sollte von Schwere und Typ des Traumas, der im Vordergrund stehenden Symptomatik, wie auch einer etwaigen klinischen Komorbidität des Betroffenen abhängig gemacht und ggf. fachkundige Hilfe bei der Auswahl eines geeigneten Therapeuten in Anspruch genommen werden.[11][24]
Psychoanalytische Verfahren |
In der Psychoanalyse wird vor allem die unbewusste Wirkung von Traumatisierungen untersucht und zu behandeln versucht. Die Psychoanalyse versteht unter einer Übertragung, dass der Patient unbewusst seine eigenen früheren Erfahrungen mit seinen Bezugspersonen auf den Analytiker in Form von Fixierungen und Wiederholungen überträgt. Letztere aktualisieren sich in der therapeutischen Beziehung als „Übertragungsneurose“ und können dann durch Widerstandsanalyse und Deutung allmählich abgebaut und behandelt werden. Diese Übertragungsneurose in einer Traumatherapie gezielt zu fördern ist jedoch kontraindiziert, da durch eine neutrale Haltung des Therapeuten unbewusst die Selbstbeschuldigungstendenzen des Traumapatienten verstärkt oder die Wiederkehr belastender Erinnerungen zum Tatgeschehen gefördert werden können, was sich möglicherweise retraumatisierend auswirkt. Stattdessen besteht die Notwendigkeit eines „interaktiven Verständnisses“ der therapeutischen Beziehung. Die Beziehungsarbeit fordert vom Therapeuten flexibles Pendeln zwischen Identifikation und Distanzierung, die Gegenübertragung soll als Interaktionsgeschehen und Verstehenshilfe für den Therapeuten betrachtet werden. Auch sind spezielle „Fallen“ im Übertragungsgeschehen einer Traumatherapie zu beachten, wie der unbewusste „Beziehungstest des Patienten auf möglichen Missbrauch durch den Therapeuten“ etc. Ein kompetenter Umgang mit Übertragung und Gegenübertragung ist u. a. auch nötig, da Traumatherapeuten in Gefahr sind, stellvertretend traumatisiert zu werden. Dies geschieht durch direkte Überflutung mit Traumamaterial bei zu großer Nähe und durch indirekte Unterwanderung des kognitiven Schutzwalles bei zu viel Distanz. Laut AWMF S3-Leitlinien wird keine spezifische Empfehlung für psychoanalytische Verfahren zur Traumabehandlung ausgesprochen.[5]
Imaginative psychodynamische Verfahren |
Imaginative psychodynamische Verfahren nutzen tiefere Schichten der Psyche durch die Verwendung von inneren Bildern, traumähnlichen Verarbeitungswegen und der Arbeit mit inneren Teilen und Aspekten. Dadurch kommen sie psychisch zu einer tiefen Ebene der Verarbeitung. Beispiele für Imaginative traumatherapeutische Verfahren sind die Psychodynamisch Imaginative Traumatherapie (PITT)[26] von Luise Reddemann, die Mehrdimensionale psychodynamische Traumatherapie (MPTT) von Gottfried Fischer und Peter Riedesser, oder die von John Watkins und Helen Watkins entwickelte Ego-State-Therapie.[27] Bei der Gruppe der imaginativen Verfahren werden meist unterschiedliche Behandlungsverfahren kombiniert, die es dem Betroffenen ermöglichen, eine vorsichtige Integration des traumatisch Erlebten zu erreichen. Hierfür wird stark ressourcenorientiert und mit stabilisierenden inneren Bildern, oft in Verbindung mit der sog. „Bildschirmtechnik“ und anderen Distanzierungstechniken das Trauma portionsweise betrachtet und Schritt für Schritt durchgearbeitet, um den Betroffenen vor überwältigenden Gefühlen zu bewahren und eine sanftere, dosierte Traumakonfrontation und -bearbeitung und danach eine Reintegration des abgespaltenen traumatischen Materials zu ermöglichen.[26] Diese Verfahren werden auch häufig kombiniert mit der EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing) Therapie eingesetzt.[28] All diesen modernen Behandlungsansätzen ist gemeinsam, dass sie integrativ angelegt sind, also meist mehrere Verfahren in sich vereinen, und eine relativ schonende, aber gründliche Bearbeitung des Traumas ermöglichen.[29] Mittels speziell entwickelter oder adaptierter, integrativer psychotherapeutischer Verfahren ist auch die Behandlung von komplexen PTBS und Dissoziativen Identitätsstörungen möglich (→ Therapie der Dissoziativen Identitätsstörung).
Traumafokussierte Verhaltenstherapie |
Eine traumafokussierte Verhaltenstherapie wird ebenfalls eingesetzt, um die belastenden Erinnerungen abzuschwächen bzw. beherrschbar zu machen. Außerdem wird sie angewendet, um antrainierte Schutzmechanismen, die den Alltag belasten, zu umgehen und aufzulösen. Wesentliche Elemente, besonders die sogenannten Trigger, die die äußeren oder inneren Auslöser für das Trauma stellen, verketten einen Reiz mit einer unerwünschten Reaktion. Verhaltenstherapie versucht die einzelnen Elemente, die eine traumatische Reaktion hervorrufen, zu identifizieren und die Reaktion vom Reiz abzukoppeln, und somit die Auslösung der Traumasymptome zu erreichen. In der sog. trauma-fokussierten kognitiv-behavioralen Therapie mit Expositionsbehandlung (TFCBT) soll durch Reizüberflutung (Exposition) eine Desensibilisierung und kognitive Umstrukturierung erreicht werden.[25] Nach gegenwärtiger Studienlage gibt es für die traumafokussierte Verhaltenstherapie zusammen mit der EMDR derzeit die meisten Studien und besten Belege für deren Wirksamkeit.[25] Eine entsprechende Expositionsbehandlung ist jedoch nur möglich, wenn die Patienten ausreichend stabil sind. Beim derzeitigen Wissensstand kann nicht für alle Patienten eine pauschale klinische Behandlungsempfehlung abgeleitet werden.[25][15] Die Narrative Expositionstherapie ist eine neuentwickelte Sonderform der Verhaltenstherapie.
Narrative Verfahren |
In traumatisierten Menschen besteht meist ein innerer Drang, die verlorenen oder isolierten Elemente des Traumas zu einer Geschichte zusammenzufügen, diese mit Sinn oder Bedeutung zu verbinden und in die persönliche Lebensgeschichte zu integrieren. Erzählende Verfahren haben das Ziel, zu dieser zusammenhängend erzählten Geschichte zu kommen, in der es möglich ist, alle Trauma-Elemente einzubinden, sodass schließlich starke Emotionen oder körperliche Reaktionen abnehmen.[30] Mittlerweile gibt es gute empirische Evidenz für die Wirksamkeit der Narrativen Expositionstherapie bei einfachen und multiplen Traumata. Diese Therapiemethode wird auch international empfohlen (vgl. ‚NICE guidelines‘ – National Institute for Health and Care Excellence). Narrative Verfahren können auch im Rahmen einer imaginativen psychodynamischen Therapie eingesetzt werden. Siehe auch Narrative Expositionstherapie (NET).
EMDR |
Ein zentrales Element dieser Therapie ist die sogenannte „bilaterale Stimulation“. Darunter ist eine intensive Stimulation beider Hirnhälften durch Augenbewegungen, Töne oder kurze Berührungen zu verstehen. Hierdurch sollen blockierte oder unvollständig integrierte Erinnerungen gelockert und einem Verarbeitungsprozess zugeführt werden. Entwickelt wurde dieses Verfahren von Francine Shapiro, die bei einem Spaziergang zufällig beobachtete, dass durch bestimmte schnelle Augenbewegungen eine Angstreduktion stattfand und sich ihre traumatischen Erinnerungen an eine zuvor diagnostizierte Krebserkrankung veränderten. Sie entwickelte ein Verfahren, um traumatische Erinnerungen mit Hilfe von bilateralen Reizen gezielt der Verarbeitung zuzuführen.[31] Durch die effektivere Informationsverarbeitung soll eine schnellere und tiefere Integration des traumatischen Geschehens erreicht werden. Dieses Verfahren wird auch häufig in andere moderne traumatherapeutische Behandlungsansätze integriert, s. o.[28]
Gestalttherapie |
Die Gestalttherapie vermeidet eine isolierte Betrachtungsweise von Körper, Geist und Seele. Alle drei Ebenen beeinflussen sich in einem wechselseitigen Prozess und sind in der Therapie zu berücksichtigen. Weiterhin muss der Mensch innerhalb seines sozialen Umfeldes betrachtet werden. Der Kontaktgrenze zwischen Individuum und Umgebung kommt dabei eine besondere Bedeutung zu, da Kontaktstörungen zu sich oder zur Außenwelt nach der gestalttherapeutischen Lehre eine Unterdrückung oder Verleugnung von natürlichen Bedürfnissen zur Folge haben, was zu problematischen Verhaltens- und Erlebnisweisen führen kann. Bei einem Trauma wie beispielsweise einem sexuellen Angriff kann es sein, dass diese Kontaktgrenze nach dem Überfall vom Betroffenen gar nicht mehr gespürt wird und die klassischen Methoden der Gestalttherapie versagen, da die Selbstregulierungskräfte des Betroffenen nicht mehr aktiviert werden können. Die Gestalttherapie ist dann insofern abzuändern, dass dem Betroffenen erst einmal eine Vorstellung davon aktiv vermittelt werden muss, dass es so etwas wie Grenzen und Bedürfnisse überhaupt gibt. Ebenso sind spezielle gestalttherapeutische Techniken vorsichtig einzusetzen, die den Ausdruck von Gefühlen wie Wut, Hass und Aggression verstärken, damit die Betroffenen diese jederzeit kontrollieren können und nicht befürchten müssen, von diesen Gefühlen überschwemmt zu werden. Ebenso können Schwierigkeiten bei der Förderung der Körperwahrnehmung auftreten, wenn Fragen die Aufmerksamkeit auf Körpersignale lenken sollen, welche mit einem traumatischen Ereignis assoziiert werden und dieses Ereignis als eine zu verheimlichende Schande erlebt wurde.
Debriefing |
Debriefing ist eine umstrittene Methode, die bei Massenereignissen genutzt wird. Die erlebte Geschichte wird im Kreise der Betroffenen wieder und wieder erzählt, bis die Erregung beim Erzählen abflacht und eine gewisse Integration stattfindet. Es ist mehr eine Soforthilfe als ein Therapieverfahren. Für Menschen, bei denen keine traumatische Informationsverarbeitungsstörung vorliegt, sondern lediglich eine hohe Stressbelastung kann das Reden über Traumatisierungen hilfreich sein und zur Entlastung führen; bei den anderen kann die Verarbeitung sogar erschwert und das Trauma durch Aktivierung weiterer Traumanetzwerke vertieft werden.
Körpertherapeutische Verfahren |
Beispiele sind TRE-Übungen (ein insbesondere in Katastrophengebieten evaluiertes eigeninduziertes Muskelzittern) oder Somatic Experiencing (ein trauma- und körperorientiertes Behandlungsmodell).
Kreative Therapieverfahren |
z. B. Kunsttherapie
Weitere Verfahren |
z. B. Identitätsorientierte Psychotraumatherapie
Medikamentöse Behandlung |
Bei bestimmten Störungsbildern oder ab einem bestimmten Schweregrad der Symptome sollte eine medikamentöse Therapie der Traumafolgestörungen erwogen werden. In diesem Fall werden neben Psychotherapie auch Psychopharmaka eingesetzt. Psychopharmaka beeinflussen das Gleichgewicht von Neurotransmittern im Gehirn und greifen dadurch in die Hirnfunktionen des Patienten ein. Durch klinische Studien konnten Hinweise gefunden werden, auf welche Neurotransmittersysteme eingewirkt werden muss, um die traumabedingten Symptome zu reduzieren bzw. die Stressphysiologie zu regulieren. Da jedoch keines dieser Medikamente ursächlich wirkt, können sie eine psychotherapeutische Traumatherapie nicht ersetzen, diese jedoch in manchen Fällen vorbereiten oder begleiten. Die Auswahl des jeweiligen Medikaments erfolgt symptomorientiert und richtet sich nach den im Vordergrund stehenden Beschwerden.
Kritiker bemängeln, dass die Medikamentation bei Traumapatienten oft eine hilflose Reaktion der Ärzte zur medikamentösen Linderung der Symptome der leidenden Patienten darstelle und eine anschließende Absetzung der Medikamente nach überstandener Krise oft nicht mehr riskiert werde. Auch kann die medikamentöse Behandlung dazu führen, dass keine oder erst zu spät geeignete traumatherapeutische Therapien begonnen werden und so das Risiko einer Posttraumatischen Belastungsstörung mit chronischen Residualbeschwerden erhöht ist.[32]
Tranquilizer |
Die am häufigsten verschriebenen Tranquilizer gehören zu der Substanzklasse der Benzodiazepine. Bekannte Handelsnamen sind unter anderem Tranxilium, Alzepram. Benzodiazepine reduzieren zuverlässig Angst und können eine rasche Erleichterung bei den psychischen Beschwerden verschaffen und ein angenehmes Gefühl der Ruhe und Gelassenheit erzeugen. Sie helfen auch gegen traumabedingte vegetative Übererregungssymptome (Hyperarousal), wie Schlafstörungen, erhöhte Reizbarkeit, sowie Schreckhaftigkeit. Dabei wirken sie schnell und haben kurzfristig nur geringe Nebenwirkungen. In schweren akuten Krisensituationen ist ihr Einsatz manchmal unverzichtbar. Sie sollten bei quälender Symptomatik möglichst nur kurzzeitig und unter strenger Indikationsstellung verordnet werden, da ein anhaltend positiver Effekt über die Dauer der Medikamentation hinaus nicht nachgewiesen werden konnte und als unwahrscheinlich gilt. Besonders zu beachten ist bei Benzodiazepinen das hohe Suchtpotential. Bereits bei einer Einnahmedauer von mehr als sechs Wochen ist neben der psychischen Abhängigkeit eine körperliche Toleranzentwicklung möglich. Dass viele Ärzte trotzdem langfristig Benzodiazepine verordnen, beruht vermutlich unter anderem darauf, dass sie über die Möglichkeiten der modernen Antidepressiva unzureichend informiert sind.
Antidepressiva |
Als Antidepressiva werden Medikamente bezeichnet, die zur Behandlung von Depressionen eingesetzt werden. Die meisten Antidepressiva greifen in den Zyklus der Neurotransmitter Noradrenalin und Serotonin ein. Ergebnisse der Grundlagenforschung lassen vermuten, dass viele traumabedingte Symptome auf eine Störung im Serotonin-Haushalt zurückzuführen sind und Antidepressiva dieses Ungleichgewicht ausgleichen können. Antidepressiva können stimmungsaufhellend wirken und die Ängste vermindern. Einige wirken antriebssteigernd, andere Antidepressiva sind antriebsneutral oder antriebsvermindernd. Letztere werden vor allem eingesetzt, wenn Betroffene motorisch sehr unruhig sind oder Schlafstörungen haben. Viele Präparate wirken je nach Inhaltsstoff erst nach einem Zeitraum von ein bis sechs Wochen. Man kann die zur Linderung posttraumatischer Beschwerden eingesetzten Antidepressiva im Wesentlichen in zwei Hauptklassen einteilen:
Trizyklische Antidepressiva |
In den Anfängen der psychopharmakologischen Wirksamkeitsforschung der traumabedingten Störungen wurden Kriegsveteranen mit unterschiedlichen Medikamenten aus der Substanzgruppe der trizyklischen Antidepressiva behandelt. Es wurden unter anderem Amitriptylin und Imipramin zum Einsatz gebracht. Beide beeinflussen u. a. den Serotonin-Stoffwechsel im Gehin und führen meist zu einer Verbesserung der symptomatischen Parameter. Desipramin, das eher noradrenerg wirkt, zeigte hingegen keine signifikante Wirkung.
SSRI Antidepressiva (Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer) |
SSRIs blockieren die Wiederaufnahme von Serotonin in den Nervenzellen und sorgen dafür, dass ein Serotoninmangel ausgeglichen wird. Sie werden mittlerweile zur Akut-, wie auch zur Langzeitbehandlung bei PTBS bevorzugt. Im Gegensatz zu trizyklischen Antidepressiva sind sie im Allgemeinen verträglicher und haben insbesondere keine anticholinergen Nebenwirkungen. Bezüglich der Wirksamkeit bei traumabedingten Folgestörungen liegen inzwischen auch Untersuchungen mit größeren Patientengruppen mit überwiegend positiven Ergebnissen vor. SSRIs lindern häufig auch Übererregung und quälende Erinnerungen (Flashbacks), sowie das Vermeidungsverhalten. Hierdurch kann bei manchen Patienten der Verarbeitungsprozess in einer Psychotherapie unterstützt oder erst ermöglicht werden. Gute Wirksamkeitshinweise liegen für Fluoxetin (20–80 mg), Paroxetin (20–50 mg) und Sertralin (50–200 mg) vor. Eine Symptomreduktion trat meist nach zwei bis vier Wochen ein. In Deutschland ist nur der Wirkstoff Paroxetin für die Behandlung von PTBS-Patienten zugelassen.
Andere Antidepressiva |
Für Mirtazapin, Bupropion und Trazodon existieren kleinere Studien, die einen vergleichbaren Effekt wie bei Sertralin bestätigten. Trazodon besitzt einen relativ stark sedierenden Effekt und kann auch abends vor dem Zubettgehen zur Verbesserung des Nachtschlafs bei PTBS verordnet werden.
Neuroleptika |
Neuroleptika greifen in die synaptische Erregungsübertragung des Gehirns ein, indem sie die Übertragung des Neurotransmitters Dopamin hemmen, so dass dieser die postsynaptischen Rezeptoren nicht mehr aktivieren kann. Dadurch wirken sie teilweise beruhigend und sollen psychotischen Zuständen aller Art entgegenwirken. Zusätzlich können Neuroleptika mit Rezeptoren für Serotonin, Acetylcholin, Histamin und Noradrenalin interagieren. Atypische Neuroleptika wie beispielsweise Olanzapin, Quetiapin und Risperidon wurden bei Traumapatienten mit psychotischer Symptomatik (z. B. wahnhafte Störungen) oder bei unzureichender Wirksamkeit der SSRI eingesetzt. In diesen Fällen konnte eine Symptombesserung erzielt werden, allerdings fehlen bisher randomisierte und kontrollierte Studien. Zudem besitzen Neuroleptika v. a. in höheren Dosierungen ein größeres Nebenwirkungspotential im Vergleich zu Antidepressiva.
Auswirkungen auf das Leben |
Die Auswirkungen von Traumata beeinflussen oft in starkem Maß das Leben der Betroffenen. Traumatisierte Menschen wechseln häufig zwischen dem Vermeiden von Erinnerungen an das traumatische Ereignis, die seelische Verletzung und ihre Folgen (bis hin zu tranceartigen Zuständen bzw. Dissoziationen) auf der einen und dem plötzlichen „Überfallenwerden“ durch Erinnerungen (sogenannte Flashbacks) auf der anderen Seite. Diese treten oft in Form einzelner Bilder, Gefühle oder Gerüche in das Bewusstsein des Betroffenen. Auch können bestimmte auslösende, an das Trauma erinnernde Faktoren (Schlüsselreize = „Trigger“) Gefühle und Angstreaktionen auslösen – oft ohne dass der Betroffene dies auf das Trauma zurückzuführen vermag.
Obwohl das traumatisierende Erlebnis in seiner Wirkung von einer gewissen Stärke gewesen sein muss und einen bleibenden, nachhaltigen Eindruck bei der betroffenen Person hinterlassen hat, kann es sein, dass sich die Person dessen weder im Zeitpunkt des Erlebens noch später bewusst ist. Weiterhin kann es sein, dass das Erlebnis dauerhaft oder über lange Zeit gänzlich verdrängt wird, ohne die eigene schwere Kränkung bzw. seelische Verletzung gegenwärtig wahrzunehmen.
Spezielle Traumatisierungen |
Kriegstraumata und Kriegstraumakinder |
Traumatisierungen durch Kriegserlebnisse (Kriegstraumata) stellen (vermutlich nach Folter oder folterähnlichen und schweren sexuellen oder frühkindlichen (Mehrfach-)Traumatisierungen) ein besonders hohes Risiko dar, eine posttraumatische Belastungsstörung zu entwickeln. Neben den direkten Kriegseinwirkungen (z. B. Bombardierung, körperliche Verletzungen, unmittelbares Miterleben von Kriegsgewalt, Leid, Tod, Gräueltaten) tragen insbesondere auch die Folgeerscheinungen des Krieges (z. B. Trennungen von Familien und Bezugspersonen, Heimatverlust, Mangelernährung, Armutsverfall, existentielle Ängste) zur Ausbildung von traumabedingten Folgestörungen bei. Neben Soldaten im Fronteinsatz stellen insbesondere Kinder aufgrund ihrer altersbedingten höheren Vulnerabilität eine Risikogruppe bezüglich der Ausbildung traumabedingter Folgestörungen dar. Allerdings finden die Bedürfnisse und Nöte der Kinder in den Kriegswirren oft keine Beachtung, da die Aufmerksamkeit sich auf die Einsatzfähigkeit der Soldaten und deren Symptomatik richtet. Die Langzeitfolgen von Kriegstraumatisierungen in der Kindheit können sich auch erst ab dem 60. Lebensjahr als PTBS-Spätmanifestation zeigen, wenn das Altern zusätzliche Belastungen (z. B. Berentung, Kinder verlassen das Haus, Tod des Lebenspartners) mit sich bringt.[33] Noch im 21. Jahrhundert wird Psychotherapie für Kriegstraumakinder des Zweiten Weltkriegs gesucht und angeboten.[34] Selbst auf die Nachfolgegeneration (unbewusst) weitergegebene Kriegstraumata wurden festgestellt.[35]
Traumatisierung von Kindern in Krankenhäusern |
Bis in die 1970er und 1980er Jahren durften Kleinkinder in den Krankenhäusern nur zu sehr restriktiven Besuchszeiten von ihren Eltern besucht werden, was bei Säuglingen und Kleinkindern zu Hospitalismus (auch Deprivationssyndrom genannt), Bindungsstörungen (z. B. reaktive Bindungsstörungen), frühkindlicher Regulationsstörungen (z. B. exzessives Schreien im Säuglingsalter), Vernachlässigungs- oder Verlassenheitstraumata mit Sofort- und Spätfolgen führen kann: Die Kinder erkannten zum Teil ihre Eltern nicht wieder, ließen sich nicht mehr so tief auf Beziehungen ein oder klammerten verstärkt. Im Erwachsenenalter kann es dann das Sozialverhalten und das partnerschaftliche Bindungsverhalten (BV) beeinflussen (z. B. unsicher-ambivalentes, unsicher-vermeidendes oder desorganisiertes BV statt sicherem BV). Dies kann Auslöser von Partnerschaftskonflikten, Spannungen, Stress, Verlustängsten und Trennungen sein. Nach einem erneuten Verlust des Partners im Erwachsenenalter kann es zu einer Reaktivierung des frühkindlichen Verlassenheitstraumas kommen.
Kindesmisshandlung |
Traumatisierungen im Kindesalter können unter anderem durch körperliche Gewalt, sexuellen Missbrauch mit und ohne Penetration, aber auch durch körperliche oder emotionale Vernachlässigung oder emotionalen Missbrauch verursacht werden. Die Schädlichkeit der beiden letzten Misshandlungensformen finden in der Gesellschaft oft keine ausreichende Beachtung. Durch Tierexperimente konnte gezeigt werden, dass durch das emotionale Erleben in den ersten Lebensjahren strukturelle neuronale Veränderungen (Verschaltungsmuster in den präfrontal-limbische Schaltkreise) im Gehirn verursacht werden, die lebenslang erhalten bleiben. Gewalttätige Traumata in der Kindheit und Jugend – egal ob einmalig oder längerandauernd – führen oft zu tiefgreifenden Störungen in der Persönlichkeit der Opfer, die über die Symptomatik allgemeiner posttraumatischer Erkrankungen hinausgehen. Kindheitstraumata erhöhen lebenslang die Risiken für körperliche oder/und psychische Erkrankungen. Bei langandauerndem Aufwachsen in einem gewaltgeprägten familiären oder sozialen Umfeld wirkt sich die Traumatisierung zudem in Form erzieherischer Prägung aus, die sich später in einer spezifisch geformten Denk-, Fühl-, Handlungs-, Kommunikations- und Wertestruktur niederschlägt. Da im Erwachsenenalter die Persönlichkeit gefestigter ist, sind hier in der Regel stärkere Traumatisierungen nötig, um die gleichen Auswirkungen auf die Persönlichkeitsstruktur hervorzurufen; Erwachsene können aber prinzipiell dieselben Folgeerscheinungen wie auch Kinder und Jugendliche entwickeln.
Trauma und Bindung |
Kinder, die von Bezugspersonen traumatisiert wurden, zeigen signifikant häufiger einen unsicher-ambivalenten, einen unsicher-vermeidenden oder einen desorganisierten Bindungsstil. Ähnliche Verhaltensweisen zeigten aber auch Kinder, wenn deren Bindungspersonen traumatische Erfahrungen nicht verarbeitet haben. Die Bindungsforschung beschäftigt sich mit dem Zusammenhang zwischen Traumatisierung der Eltern und einer Bindungsunsicherheit von Kleinkindern. Wegen dieser transgenerationalen Weitergabe von Traumata ist es wichtig, bei Untersuchungen von Kindern mit Bindungsstörungen (z. B. „Secure base distortion“) auch die Eltern-Kind-Interaktion durch ausführliche Direkt- und Videobeobachtung zu analysieren und eine Zwei-Generationen-Perspektive einzunehmen. Bei Kindern von traumatisierten Müttern, bei denen eine Posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert wurde, ist eine generationenübergreifende Weitergabe von Traumaerfahrung zu beachten[36][37] (Siehe hierzu auch: Eltern und Vorfahren mit PTBS).
Das vom Kinderpsychiater Karl Heinz Brisch entwickelte Elternprogramm SAfE – Sichere Ausbildung für Eltern für werdende Eltern zielt auf die Entwicklung elterlicher Feinfühligkeit. Dadurch soll unter anderem einer Weitergabe von eigenen negative Bindungserfahrungen an die nächste Generation vorgebeugt werden.
Bei Erwachsenen, die Traumasymptome zeigen, für die keine Ursache gefunden wird, kann eine transgenerationale Traumaweitergabe vorliegen: Traumata können durch Verschweigen – um sie vor anderen zu verbergen und sie damit nicht zu belasten – unbeabsichtigt mit nachhaltigen Folgen auf die nächsten Generationen übertragen werden.[38]
Sonstige Begriffe |
Salutogenese
Der Begriff der Salutogenese geht auf Aaron Antonovsky zurück. Während seiner Zeit am Applied Social Research Institute beschäftigte sich Antonovsky mit Studien von Frauen, die in Mitteleuropa zwischen 1914 und 1923 geboren wurden. Einige von ihnen waren Überlebende aus Konzentrationslagern. Dabei fiel ihm auf, dass 29 % der ehemals internierten Frauen trotz dieses Traumas in ihrer Gesundheit nicht beeinträchtigt waren. Diese Beobachtung führte ihn zu der Frage, welche Eigenschaften und Ressourcen diesen Menschen geholfen hatten, unter den Bedingungen der KZ-Haft sowie in den Jahren danach ihre (körperliche und psychische) Gesundheit zu erhalten – allgemein: Wie entsteht Gesundheit? So brachte Antonovsky die Frage nach der Entstehung von Gesundheit in die Wissenschaft ein.[39]Andrei und Vanya gelten als entwicklungspsychologisches Fallbeispiel. Die Zwillinge wurden schon im jungen Alter von ihrer Stiefmutter in den Keller verbannt und geschlagen. Als man sie im Alter von sieben Jahren befreite, konnten sie nicht sprechen und verstanden die Bedeutung von Bildern nicht. Die Zwillinge wurden ihrem Vater und ihrer Stiefmutter weggenommen und später adoptiert. In einer liebevollen Umgebung gelang es ihnen, ihren intellektuellen und emotionalen Rückstand aufzuholen. Sie haben sich vollständig von ihren frühen Lebenserfahrungen erholt.[40][41]
Sequenzielle Traumatisierung
In einer Langzeitstudie von jüdischen Kriegswaisen zeigte der Psychiater Hans Keilson auf, dass die Art und Weise, wie mit den Kindern in den Jahren nach dem traumatisierenden Ereignis umgegangen wurde, eine größere Auswirkung auf die Entstehung von Traumasymptomen hatte als das auslösende Ereignis selbst. Keilson bezeichnete diesen Vorgang als sequentielle Traumatisierung.[42]
Posttraumatische Reifung
Einige Traumatisierte sind der Überzeugung, dass das traumatische Ereignis bei ihnen langfristig zu einem persönlichen Reifungsprozess geführt habe und dass sie die daraus gewonnenen Erfahrungen nicht mehr missen wollten. Auch wenn sich in Untersuchungen herausgestellt hat, dass dies nur bei einer Minderheit der Traumatisierten objektiv nachvollziehbar ist, kann dies eine wichtige zusätzliche Zielgröße für die Behandlung sein.
Reviktimisierung
Erleidet ein traumatisierter Mensch zu einem späteren Zeitpunkt erneut Gewalterfahrungen, spricht man zuweilen auch von Reviktimisierung. Die Verwendung dieses Begriffs ist jedoch aus psychologischer und ethischer Sicht kritisch zu sehen (siehe Reviktimisierung).
Resilienz
Trotz ausgeprägter traumatischer Belastung bleiben manche Betroffene weitgehend gesund oder erholen sich zumindest vergleichsweise schnell. Diese „psychische Widerstandsfähigkeit“ wird als Resilienz bezeichnet. Unbehandelte Traumata können zu einschneidenden, sehr belastenden Folge-Erkrankungen führen, die womöglich lebenslang anhalten bzw. die Biographie einer Person negativ beeinflussen. Dies ist jedoch nicht zwangsläufig der Fall, wie die Langzeitstudie von Emmy Werner gezeigt hat. Durch diese Langzeitstudie ist bekannt, dass meist eine stabile Bezugsperson die wichtigste und bedeutendste Hilfe für einen traumatisierten Menschen ist. In manchen Fällen kann die Resilienz nach einem Trauma längerfristig sogar zunehmen.
Siehe auch |
Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)- Akute Belastungsreaktion
- Komplexe posttraumatische Belastungsstörung
- Posttraumatische Verbitterungsstörung
- Dissoziative Identitätsstörung
- Posttraumatische Belastungsstörung bei Kindern und Jugendlichen
- Traumapädagogik
- Psychosoziale Notfallversorgung
- Notfallseelsorge
- Kindheitstrauma
- Kritisches Lebensereignis
Literatur |
Sefik Tagay, Ellen Schlottbohm, Marion Lindner: Posttraumatische Belastungsstörung: Diagnostik, Therapie und Prävention. Kohlhammer, Stuttgart 2016, ISBN 978-3-17-026069-6.- Gottfried Fischer, Peter Riedesser: Lehrbuch der Psychotraumatologie. 4. Auflage. Reinhardt, München/ Basel 2009, ISBN 978-3-8252-8165-6.
Michaela Huber: Trauma und Traumabehandlung. Trauma und die Folgen. Junfermann, Paderborn 2003, Teil 1: ISBN 3-87387-510-1/ Teil 2: ISBN 3-87387-550-0.
Peter Fiedler: Dissoziative Störungen und Konversion. Trauma und Traumabehandlung. 2. Auflage. Beltz, Weinheim 2001, ISBN 3-621-27494-4.- Andreas Krüger: Akute psychische Traumatisierung bei Kindern und Jugendlichen. Klett-Cotta, Stuttgart 2008, ISBN 978-3-608-89065-5.
Andreas Maercker (Hrsg.): Posttraumatische Belastungsstörungen. 4. Auflage. Springer, Heidelberg 2013, ISBN 978-3-642-35067-2.- Ibrahim Özkan, Ulrich Sachsse, Annette Streeck-Fischer (Hrsg.): Zeit heilt nicht alle Wunden. Kompendium der Psychotraumatologie. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2012, ISBN 978-3-525-40186-6.
Ulrich Sachsse, Ibrahim Özkan, Annette Streeck-Fischer (Hrsg.): Traumatherapie – Was ist erfolgreich? 2. Auflage. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2004, ISBN 3-525-45892-4.- Annette Streeck-Fischer, Ulrich Sachsse, Ibrahim Özkan: Perspektiven der Traumaforschung. In: Annette Streeck-Fischer (Hrsg.): Körper, Seele, Trauma. Biologie, Klinik und Praxis. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2001, ISBN 3-525-45868-1, S. 12–22.
- Ralf Vogt: Psychotrauma, State, Setting. Psychosozial Verlag, Gießen 2007, ISBN 978-3-89806-582-5.
- Wolfgang Wöller: Trauma und Persönlichkeitsstörungen. Schattauer, Stuttgart/ New York 2006, ISBN 3-7945-2446-2.
- Werner Bohleber: Die Entwicklung der Traumatheorie in der Psychoanalyse. In: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen. Heft 9–10, 2000, S. 797–839.
- Babette Rothschild: Der Körper erinnert sich. Die Psychophysiologie des Traumas und der Traumabehandlung. 5. Auflage. synthesis, New York 2011, ISBN 978-3-922026-27-3.
Weblinks |
Wiktionary: Trauma – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen
- S2-Leitlinie: Diagnostik und Behandlung von akuten Folgen psychischer Traumatisierung. AWMF-Registernummer 051/027 (online: (Volltext), abgerufen am 25. Februar 2018).
Einzelnachweise |
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↑ Sefik Tagay, Ellen Schlottbohm, Marion Lindner: Posttraumatische Belastungsstörung: Diagnostik, Therapie und Prävention. Kohlhammer, Stuttgart 2016, ISBN 978-3-17-026069-6.
↑ Werner Stangl: Lexikon für Psychologie und Pädagogik. Universität Linz, aufgerufen am 10. August 2011.
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↑ Tanja Zöllner, Lawrence G. Calhoun, Richard G. Tedeschi: Trauma und persönliches Wachstum. In: Andreas Maercker, Rita Rosner (Hrsg.): Psychotherapie der posttraumatischen Belastungsstörungen. Thieme Verlag, Stuttgart 2006, S. 36–45.
↑ Gottfried Fischer, Peter Riedesser: Lehrbuch der Psychotraumatologie. E. Reinhardt, München 1998, ISBN 3-8252-8165-5.
↑ The ICD-10 – Classification of Mental and Behavioural Disorders – Clinical descriptions and diagnostic guidelines. (PDF; 1,3 MB)
↑ Stephen Joseph: What does'nt kill us. Hachette Digital Publishers, 2011, S. 19.
↑ R. J. Daly: Samuel Pepys and post-traumatic stress disorder. In: The British Journal of Psychiatry. 143. Jg., 1983, S. 64–68.
↑ ab Luise Reddemann, Cornelia Dehner-Rau: Trauma : Folgen erkennen, überwinden und an ihnen wachsen ; ein Übungsbuch für Körper und Seele. 3., vollst. überarb. Auflage. TRIAS, Stuttgart 2008, ISBN 978-3-8304-3423-8.
↑ Joy Degruy: Post Traumatic Slave Syndrome. America's Legacy of Enduring Injury and Healing, Uptone Press, 2005.
↑ Hans-Jürgen Wirth: 9/11 as a Collective Trauma and other Essays on Psychoanalysis and Society. Psychosozial-Verlag, 2004.
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↑ ab Im DSM-V wird die berufsbedingte Konfrontation mit traumatischen Ereignissen im Kriterium A4 aufgegriffen direkt: „The other indirect exposure, which we added to the DSM-5 as Criterion A4, conc erns professionals w ho have never been in direct danger, but who learn about the consequences of a traumatic event day-in and day- out as part of their professi onal responsibilities.“ (Friedman, 2013). Als Beispiele werden nicht nur Rettungskräfte und Notfallmediziner angeführt, die direkt Zeugen traumatischer Ereignisse und deren Folgen werden und mit Tod und Sterben konfrontiert oder selbst im Einsatz Lebensgefahren ausgesetzt sind, sondern beispielsweise auch Traumatherapeuten, die durch Erzählungen ihrer Klienten nur indirekt mit einem traumatischen Ereignis konfrontiert werden. Diese Sichtweise ist jedoch umstritten und in der wissenschaftlichen Literatur wird Letzteres meist separat unter den Begriff: „Sekundäres Trauma“ oder „vicarious trauma“ gefasst (z. B. Bride, Robinson, Yegidis & Figley, 2004, Canfield 2005; Pearlman & Saakvitne 1995 Kadambi & Truscott 2004; Dickes 2001), der zuweilen nicht klar differenziert wird von den Begriffen: „compassion fatigue“ oder "compassion fatigue" (z. B. Bober & Regehr 2006; Figley 1995 & 2002; Salston & Figley 2003; Stamm & Figley 1996) oder sogar synonym verwendet wird.
↑ Andreas Maercker: Posttraumatische Belastungsstörungen. 2013, S. 36, Psychologische Modelle.
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↑ ab Ulrich Sachsse: Traumazentrierte Psychotherapie : Theorie, Klinik und Praxis. Schattauer, Stuttgart 2009, ISBN 978-3-7945-2738-0.
↑ Andreas Maercker: Posttraumatische Belastungsstörungen. Springer, Berlin/ Heidelberg 2013, ISBN 978-3-642-35068-9, S. 284.
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↑ abcde Guido Flatten, Ursula Gast, Arne Hofmann, Christine Knaevelsrud, Astrid Lampe, Peter Liebermann, Andreas Maercker, Luise Reddemann, Wolfgang Wöller: Posttraumatische Belastungsstörung : S3-Leitlinie und Quellentexte. Schattauer, Stuttgart 2013, ISBN 3-7945-2923-5.
↑ ab Luise Reddemann: Psychodynamisch Imaginative Traumatherapie : PITT® - Das Manual : Ein resilienzorientierter Ansatz in der Psychotraumatologie. 9. Auflage. Stuttgart 2017, ISBN 978-3-608-89201-7.
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↑ Michael White: Landkarten der narrativen Therapie. 1. Auflage. Carl-Auer-Verlag, Heidelberg 2010, ISBN 978-3-89670-741-3.
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↑ Udo Baer, Gabriele Frick-Baer: Wie Traumata in die nächste Generation wirken – Untersuchungen, Erfahrungen, therapeutische Hilfen. 4. Auflage. Semnos Verlag, Neukirchen-Vluyn 2014, ISBN 978-3-934933-33-0.
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↑ Jarmila Koluchová: Severe Deprivation in Twins: a Case Study. In: Journal of Child Psychology and Psychiatry. Band 12, Nr. 2, 1972, S. 107–114, doi:10.1111/j.1469-7610.1972.tb01124.x
↑ Hans Keilson: Sequentielle Traumatisierung bei Kindern. Enke Verlag, Stuttgart 1979, ISBN 3-432-90111-9.
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